Ein mathematischer Abgesang auf die Illusion objektiver Wahrheit im Marketing
Die Mathematik gilt als Inbegriff von Wahrheit. 2 + 2 = 4. Punkt. Keine Diskussion. In der Naturwissenschaft funktioniert sie erstaunlich gut. Die Flugbahnen der Planeten, die Zerfallsraten radioaktiver Elemente, sogar die Hintergrundstrahlung des Universums: Alles lässt sich mathematisch beschreiben – scheinbar „exakt“.
Doch was viele vergessen: Diese Exaktheit ist nicht Wahrheit, sondern Systemtreue. Die Mathematik ist kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern ein Modell, das auf Annahmen beruht. Und sobald wir beginnen, dieses Modell auf etwas so chaotisch-menschliches wie Marketing anzuwenden, wird aus Exaktheit schnell eine Falle.
🎯 KPIs – Die kleinen Zahlenlügen mit großer Wirkung
Im Marketing lieben wir sie:
KPIs. CTR. ROI. CAC. NPS.
Zahlen, die Ordnung in ein scheinbar unkontrollierbares System bringen.
Aber KPIs sind wie die Mathematik selbst: intern logisch, extern fragwürdig.
Sie messen exakt, was sie messen wollen – aber nicht unbedingt das, was wirklich zählt.
Ein paar Beispiele:
- Eine hohe Click-Through-Rate kann bedeuten, dass deine Kampagne funktioniert – oder dass dein Thumbnail einfach manipulativer Clickbait ist.
- Ein niedriger Cost per Lead sagt: Effizienz! – aber vielleicht ziehst du damit genau die falsche Zielgruppe an.
- Ein hoher Net Promoter Score klingt gut – aber sagt nichts über nachhaltige Markenbindung aus, wenn du parallel dein Produktversprechen untergräbst.
🧠 Exaktheit ist nicht gleich Erkenntnis
KPIs sind wie Koordinaten auf einer Landkarte.
Aber wie der Kybernetiker Heinz von Foerster sagte:
„Die Karte ist nicht das Gebiet.“
Die Karte ist reduziert. Sie lässt vieles weg, was „nicht messbar“ scheint:
- Emotionen
- Kontext
- Kultur
- implizite Erwartungen
- semantische Brüche
Im schlimmsten Fall optimieren wir gegen die Wirklichkeit – weil unser KPI-System intern stimmt, aber extern an der Realität vorbeizielt.
🌀 Was wir vom Universum lernen können
In der Kosmologie diskutieren Physiker*innen gerade, ob unser Universum nur ein mathematisches Modell ist – eine Art „Simulation“ innerhalb eines größeren Systems. Schwarze Löcher, Wurmlöcher, Multiversen: Alles mathematisch ableitbar, aber nicht beobachtbar.
Und genau das ist der Punkt:
Nur weil eine Metrik berechenbar ist, heißt das nicht, dass sie relevant ist.
Die „exakten“ Modelle der Kosmologie erinnern uns daran, dass wir auch im Marketing oft in geschlossenen Systemen denken – und dabei das Offene, das Ambivalente, das Nicht-Zählbare ignorieren.
🔓 Fazit: Misstraut der Exaktheit
Klar: Ohne Zahlen geht’s nicht. Aber Zahlen sind nicht neutral. Sie beruhen auf Annahmen, auf Modellen, auf Grenzen. Und manchmal – vielleicht öfter, als uns lieb ist – führen sie uns in die Irre. Weil wir das, was sich messen lässt, mit dem verwechseln, was zählt.
Deshalb gilt im Marketing wie in der theoretischen Physik:
„Exakte Modelle sind wunderbar – solange man weiß, dass sie lügen.“
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